Mehr Beweglichkeit entsteht nicht nur durch Dehnen
Wenn ich zu Beginn einer Yogastunde frage, was sich meine Teilnehmer:innen wünschen, lautet die häufigste Antwort: „Ich möchte wieder beweglicher werden.“
Doch was bedeutet das eigentlich? Und wie werden wir durch Yoga beweglicher?
Viele Menschen denken bei Beweglichkeit sofort an Dehnen. Doch Yoga geht weit über das klassische Stretching hinaus.
Was bedeutet Beweglichkeit eigentlich
Wenn meine Yogaschüler sagen, sie möchten beweglicher werden, meinen sie meist, dass sie sich wieder freier bewegen oder morgens ohne Steifheit aufstehen möchten. Oft steckt dahinter die Vorstellung, dass man dafür einfach mehr dehnen müsse. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit.
Beweglichkeit bedeutet nicht nur, dass Muskeln länger oder Gelenke weiter werden. Sie beschreibt das Zusammenspiel von Muskeln, Gelenken, Faszien, Atmung und Nervensystem. Der Körper braucht nicht nur Länge, sondern auch Vertrauen, um Spannung loszulassen.
Ich erlebe häufig, dass sich Menschen im Alltag unbeweglich fühlen, weil ihr Körper in einer Art Schutzspannung verharrt. Diese Spannung entsteht nicht nur durch zu wenig Bewegung, sondern auch durch Stress, Unruhe oder Anspannung. Wenn der Körper wieder Sicherheit empfindet, lässt er los. Erst dann kann echte Beweglichkeit entstehen.
Dehnen kann kurzfristig helfen, Spannungen zu lösen. Doch oft kommt die Steifheit zurück, sobald das Nervensystem wieder in Anspannung geht. Nachhaltige Beweglichkeit entsteht erst dann, wenn Körper und Geist miteinander arbeiten, wenn wir wahrnehmen, atmen und loslassen.
Yoga schafft genau diesen Raum.
Yoga ist kein Sport, sondern eine Praxis der Verbindung
Yoga ist kein Sport, auch wenn viele es heute so sehen. Die Körperhaltungen sind nur ein Teil des Weges. Sie helfen uns, bewusster zu atmen, achtsamer zu spüren und innerlich stiller zu werden.
Im Yoga geht es nicht darum, besonders weit oder besonders tief in eine Haltung zu kommen. Es geht darum, sich im eigenen Körper wohlzufühlen und den Geist zu beruhigen. Die Asanas bereiten uns darauf vor, still zu sitzen, zu atmen und im Moment zu verweilen.
Ihr Sinn ist nicht, den Körper an seine Grenzen zu bringen, sondern ihn zu öffnen – als Tor zur inneren Ruhe. Wahre Entwicklung entsteht, wenn Bewegung und Achtsamkeit zusammenfinden.
Das Ziel im Yoga ist also nicht maximale Beweglichkeit, sondern Entwicklung und Integration. Beweglichkeit entsteht dabei ganz von selbst, als natürliche Folge einer Praxis, die auf Bewusstheit und Balance beruht.
Ein Beispiel aus meinem Unterricht
In meinem Kurs kam vor einiger Zeit ein neuer Teilnehmer dazu. Er ist Anfang sechzig, sehr unbeweglich und wacht jeden Tag mit Rückenschmerzen auf. Sein Ziel war klar: die Schmerzen loswerden und wieder beweglicher werden.
Ich kenne diesen Wunsch gut. Und ich weiß, dass er sich nicht mit Kraft oder Ehrgeiz erfüllen lässt. In meinen Stunden arbeiten wir mit langsamen, bewussten Bewegungen. Wenn der Atem ruhig fließt, beginnt der Körper von selbst, Spannungen zu lösen.
Zwei Studien bestätigen diese Erfahrung:
- In einer Untersuchung mit Studentinnen (Luo 2023) zeigte sich, dass regelmäßiges Yoga zu Hause die Balance und Beweglichkeit deutlich verbessert – selbst bei Anfängerinnen.
- Und in einer weiteren Studie (Polsgrove 2016) führten bereits zehn Wochen Yoga zu einer spürbar größeren Beweglichkeit und besserem Gleichgewicht bei Sportlern.
Das Entscheidende ist jedoch nicht, wie weit man kommt, sondern wie man übt. Yoga wirkt nicht durch Ziehen, sondern durch Loslassen.
Warum Yoga anders wirkt als Dehnen
Klassisches Dehnen und Yoga haben eines gemeinsam: sie fördern Beweglichkeit. Doch die Art und Weise unterscheidet sich.
| Klassisches Dehnen | Yoga Praxis |
|---|---|
| Fokus auf einzelne Muskeln | Fokus auf das ganze System |
| Ziel: Muskeln dehnen | Ziel: Spannung regulieren |
| Oft passiv | Bewusst aktiv, mit Atmung |
| Körperlich orientiert | Verbindung von Körper und Geist |
Wenn ich in meinen Kursen beobachte, dass Teilnehmende zu stark ziehen, erinnere ich sie daran, wieder zu atmen. Denn sobald der Atem ruhig wird, lässt der Körper nach. Genau in diesem Moment beginnt Beweglichkeit.
Yoga ist also kein Dehnprogramm. Es ist eine Praxis, die Körper, Atem und Wahrnehmung miteinander verbindet.
Drei Yogahaltungen, die Beweglichkeit fördern
- Herabschauender Hund (Adho Mukha Svanasana)
Öffnet die gesamte Körperrückseite, stärkt Schultern und Beine und bringt Länge in die Wirbelsäule.
- Drehsitz (Ardha Matsyendrasana)
Mobilisiert die Wirbelsäule, verbessert die Haltung und schenkt innere Weite.
- Schmetterlingshaltung (Baddha Konasana)
Löst Spannungen in den Hüften und im unteren Rücken. Besonders wohltuend bei langem Sitzen.

Drehsitz (Ardha Matsyendrasana)
Diese drei Haltungen sind sanft und wirksam. Sie zeigen, dass Beweglichkeit nicht durch Druck entsteht, sondern durch Präsenz.
Yoga für mehr Beweglichkeit im Alltag
Nach einigen Wochen berichten viele meiner Teilnehmer:innen, dass sie sich im Alltag freier bewegen. Sie stehen leichter auf, drehen sich müheloser und fühlen sich insgesamt lebendiger.
Für mich ist das der schönste Effekt von Yoga. Beweglichkeit wird nicht nur im Körper spürbar, sondern auch im Denken, im Fühlen und im Atmen.
Was ich aus der Praxis und aus Studien gelernt habe
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Beweglichkeit entsteht durch Bewusstheit, nicht durch Zwang
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Je ruhiger der Atem, desto weicher reagiert der Körper
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Dehnen allein verändert wenig; erst das Loslassen schafft Raum
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Yoga verbessert Beweglichkeit, Balance und Körpergefühl zugleich
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Wahre Beweglichkeit wächst dort, wo wir aufhören, uns zu zwingen
In meinen Yogastunden geht es genau darum, Beweglichkeit nicht zu erzwingen, sondern entstehen zu lassen. Durch ruhige, bewusste Bewegung, in Verbindung mit dem Atem, entsteht Raum im Körper. Ohne Druck und ohne Ehrgeiz. Yoga lehrt uns, dass wahre Beweglichkeit aus Leichtigkeit entsteht, nicht aus Anstrengung.
Wenn du mehr darüber lesen möchtest, warum regelmäßige Bewegung so wichtig ist, findest du hier meinen früheren Artikel: Wann haben wir verlernt, uns zu bewegen?

